…stets auf den größten Haufen.
Wer kennt das nicht? Andere werden für Leistungen belohnt, die sie entweder gar nicht vollbracht haben oder die einer genaueren Prüfung kaum stand halten können: Der Kollege wird befördert, obwohl er schon seit Ewigkeiten keinen Finger mehr über die Arbeitszeit hinaus krümmt. Dabei sind Sie es, der abends noch lange nach Feierabend im Büro sitzt, um etwas abzuschließen? Oder die Kollegin erhält für ihr Engagement für die Weihnachtsfeier ein großes Dankeschön vom Chef, dabei haben Sie im Hintergrund all die unangenehmen und zeitaufwendigen Arbeiten vollrichtet? Schon in der Schulzeit wurden die Streber und Streberinnen selbst dann mit Lob überschüttet, wenn sie nur durchschnittlich mitarbeiteten oder haben auch in solchen Fächern Einser kassiert, in denen sie nicht so gut waren wie ihre Mitschüler? Ganz im Gegenteil zu Ihnen, der Probleme mit dem Lehrstoff hatte? Sie konnten sich noch so sehr anstrengen, irgendwie blieben Sie bei ihren Noten hängen und erbrachte Leistungen entsprachen ja sowieso nur den Erwartungen?
Natürlich werden Menschen auch oft genug völlig gerechtfertigt belohnt und das Lob entspricht den gezeigten Leistungen. Ebenso oft wird auch genau den Richtigen das Lob vorenthalten. Doch es ist keineswegs Einbildung, dass diejenigen, die schon haben, noch mehr bekommen – und die, die wenig haben, auch das noch genommen wird. Jeder kennt das Phänomen aus dem Alltag: die einen bekommen für ehemals erbrachte Leistungen noch Jahre später Anerkennung, andere müssen für früher begangene Sünden wiederum scheinbar ewig büßen. Die Wissenschaftssoziologie hat hierfür sogar eine Bezeichnung: den Matthäus-Effekt. Der Name spielt auf ein Gleichnis des Matthäusevangeliums an:
„Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, dass er Fülle habe: wer aber nicht hat, von dem wird auch genommen, was er hat.“
Umgangssprachlich könnte man dies auch zusammenfassen mit den Worten: „Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen“, „Die Reichen werden reicher – und die Armen immer ärmer“ oder „Erfolg und Erfolg gesellen sich gern“. In diesen Formulierungen spiegelt sich eine Ungerechtigkeit wieder, die ein jeder schon in der einen oder anderen Situation selbst erfahren oder aber beobachtet hat. Robert K. Merton hat sich mit dem Matthäus-Effekt ursprünglich lediglich auf die Zitierhäufigkeit von wissenschaftlichen Veröffentlichungen bezogen. Demzufolge werden bekannte Autoren sehr viel häufiger zitiert als unbekannte. Während die bekannten Autoren dadurch noch bekannter werden, bleiben die Unbekannten nicht nur weiterhin im Schatten der Bekannten, ihr Abstand zu ihren vielbeachteten Kollegen vergrößert sich sogar. Für dieselbe Leistung ist es demzufolge sehr viel wahrscheinlicher, dass ein bereits bekannter Wissenschaftler viel mehr Anerkennung erhält, als sein unbekannter, weniger angesehener Kollege.
Beschrieben wird mit dem Matthäus-Effekt das Phänomen der sogenannten positiven Rückkopplung. Diese liegt vor, wenn sich etwas auf sich selbst verstärkend auswirkt. Hört sich kompliziert an? Ist es aber nicht! Ruhm verstärkt Ruhm, Anerkennung führt zu noch mehr Anerkennung, Erfolg zu mehr Erfolg. Umgekehrt führt ein schlechter Ruf oftmals zu einem noch schlechteren Ruf. Wie sehr der Matthäus-Effekt sich auswirkt, hat unlängst auch PISA gezeigt: Das deutsche Bildungssystem verstärkt wie kaum ein anderes vorhandene Bildungs- und Zugangschancen, indem die Leistungsunterschiede von Kindern aus bildungsnahen und bildungsfernen Elternhäusern systematisch aufrechterhalten und weiter befördert werden. Wer mit wenig Startkapital ins Leben startet, wird es in der Folge immer schwerer haben als diejenigen, deren Ausgangslage komfortabler gewesen ist. Es zählt nicht, vergleichbare Leistungen zu zeigen – nein! Man muss vielmehr besser sein, sich mehr anstrengen, härter und sichtbarer arbeiten. Aufstieg ist möglich – ohne Frage – aber man muss die passenden Schlüssel für die richtigen Türen finden. So hilft es nicht, wenn Sie bis spät abends im Büro sitzen, wenn es nachher niemand bemerkt hat! Ebenso können Sie noch so hart im Hintergrund für Firmenveranstaltungen arbeiten, das Lob wird jedoch derjenige erhalten, der im Rampenlicht organisiert und die Festivität öffentlichkeitswirksam vorantreibt.
Also einfach nur hart arbeiten, dies anderen auch zeigen und schon läuft es? Nicht alle Ungerechtigkeiten sind für Sie als Individuum ohne Weiteres zu lösen. Zahlreiche Ungleichheiten sind bereits in den Strukturen des Bildungsapparates begründet, sind in das Steuersystem eingeschrieben oder im Vergabesystem von Forschungs- und Fördergeldern verankert. Damit ist es für den Einzelnen nur schwer möglich, etwas zu ändern. Härter arbeiten reicht nicht immer aus. Aufzusteigen kommt so manches Mal dem Kampfe Don Quichottes gegen die Windmühlen gleich. Doch Sie sollten den Kopf keinesfalls in den Sand stecken. Das Wissen um den Matthäus-Effektes können Sie auch als Chance betrachten. Zum einen sind Strukturen, egal wie tief verwurzelt, egal wie lange schon bestehend, kein Naturgesetz: Man kann sie prinzipiell ändern! Zum anderen kann man Mechanismen wie den Matthäus-Effekt auch zu seinem eigenen Vorteil (aus)nutzen. Kommunizieren Sie von Ihnen erbrachte Leistungen offensiv, beziehen Sie sich auch später an geeigneter Stelle darauf. Das kann auch bedeuten, dass Sie in Zukunft Ihre Arbeit nicht nur sichtbarer darstellen, sondern auch Maßnahmen ergreifen, die Ihnen womöglich unliebsam, dafür aber effizient hinsichtlich der positiven Rückkopplung sind.
Literatur
Merton, Robert K.: Der Matthäus-Effekt in der Wissenschaft. In: Robert K. Merton (Hrsg.): Entwicklung und Wandel von Forschungsinteressen. Suhrkamp, Frankfurt 1985.
Schwippert, Knut; Bos, Wildfrid; Lankes, Eva-Maria (2003): Heterogenität und Chancengleichheit am Ende der vierten Jahrgangsstufe im internationalen Vergleich; In: Wildfried Bos et al.: Erste Ergebnisse aus IGLU: Schülerleistungen am Ende der vierten Jahrgangsstufe im internationalen Vergleich. Münster: Waxmann.
Zuckerman, Harriet (2010): Dynamik und Verbreitung des Matthäus-Effekts. Eine kleine soziologische Bedeutungslehre. In: Berliner Journal für Soziologie; S. 309-340.